Das Bundesamt für Strahlenschutz BfS warnt auch im Herbst 2023, dass in einigen Regionen Deutschlands Speisepilze und Wildtierfleisch durch radioaktives Cäsium-137 (korrekte Schreibweise 137Cs) belastet seien – und behauptet einfach mal, dass dies eine Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 sei.

Zunächst ist diese Warnung nicht falsch: Das BfS führt korrekt aus, dass der Verzehr von mehr als 200 Gramm Pilzen pro Woche mit der höchsten gemessenen Belastung über ein ganzes Jahr hinweg zu einer zusätzlichen Strahlenbelastung führen würde, die etwa 20 Flügen von Frankfurt nach Gran Canaria entspräche. Oder anders ausgedrückt:

Allerdings auch nur dann, wenn diese Pilzmahlzeiten komplett aus den am höchsten belasteten Pilzsorten von den am höchsten belasteten Standorten bestehen – und das ist schon mal sehr unwahrscheinlich. Aber eben auch nicht kontrollierbar, denn kaum ein Pilzsammler verfügt über das technische Equipment, um belastete von unbelasteten Pilzen zu unterscheiden. Für kommerziell vertriebene Lebensmittel gibt es strenge Grenzwerte für den Gehalt an radioaktivem Cäsium. Das ist wichtig, weil auch Wildtiere, insbesondere Wildschweine, sich zeitweise von diesen Pilzen ernähren und dabei das radioaktive Material aufsammeln. Als besonders belastet gilt besonders eine Pilzart, der Hirschtrüffel.

Das Element Cäsium hat ähnliche chemische Eigenschaften wie Natrium und Kalium, zwei für alle Lebewesen eminent wichtigen Grundbausteinen. Die Salze des Cäsiums sind sehr gut wasserlöslich, zusammen mit den chemischen Eigenschaften sorgt dies dafür, dass sich aufgenommenes Cäsium ziemlich gleichmäßig im Muskelgewebe verteilt. Auf Grund der normalen Stoffwechselprozesse wird es allerdings auch relativ schnell wieder ausgeschieden, nach 110 Tagen ist nur noch die Hälfte der aufgenommenen Menge vorhanden (Quelle: Umweltanalysen.com). Die biologische Halbwertszeit von Cäsium liegt also bei 110 Tagen.

Das Isotop 137Cs zerfällt außerdem radioaktiv, und zwar unter Aussendung eines Elektrons (=Beta-Strahlung) und eines Gamma-Photons (=Gamma-Strahlung) in das stabile Isotop 137Ba des Elementes Barium. Dieser zufällige Prozess hat eine Halbwertszeit von 30,2 Jahren, also ist hier nach 30,2 Jahren noch die Hälfte des ursprünglichen Materials vorhanden, nach 60,4 Jahren nur noch ein Viertel, und so weiter. Für den möglichen schädlichen Effekt ist also die kürzere Zeitdauer von 110 Tagen wichtiger.

Die beiden Aussendungen (Beta- und Gammastrahlung) sind nun genau „das Radioaktive“ an dem Element 137Cs, sie können Schäden in den Zellen auslösen, in denen dieses Cäsium steckt. Im schlimmsten Fall (der allerdings nur äußerst selten auftritt) durch Beschädigung der zelleigenen Programme und Übergang zum ungebremsten Wachstum. Anders ausgedrückt: Wer zu viel radioaktives Material im Körper hat (eben beispielsweise das 137Cs), hat eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken.

Man sollte also selbst gesammelte Wildpilze und Wildtierfleisch aus den belasteten Regionen nur in Maßen zu sich nehmen – verzichten muss man darauf jedoch nicht. Denn die Gefahr ist nicht das Risiko.

Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt der BfS-Warnung, nämlich die Zuschreibung zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Tatsächlich wurden bei diese Havarie große Mengen 137Cs freigesetzt und durch das extrem heiße Feuer des Graphit-Moderators im Reaktor in die Hochatmosphäre getragen (eine genauere Beschreibung des Unfalls findet man auch im Buch Wider die Angst). Was hochgeht, kommt auch wieder herunter – und damit wurde das Cäsium über halb Europa verteilt. Insbesondere Regionen in Bayern haben damals erhebliche Mengen abbekommen, von denen durch radioaktiven Zerfall inzwischen eben nur etwas mehr als die Hälfte verschwunden ist. Der Rest befindet sich nach wie vor im Ökosystem, und ist damit potenziell gefährlich.

Aber, stimmt die Zuschreibung des BfS denn überhaupt? Diese Frage war bis vor kurzer Zeit überhaupt nicht untersucht, und, ehrlich gesagt, gab es vor dem Reaktorunfall von Tschernobyl auch keine systematische Überwachung der in der Umwelt vorhandenen Strahlungsmenge. Der österreichische Wissenschaftler Georg Steinhauser und sein Team haben dies nun nachgeholt – und eine Überraschung erlebt. Denn bis zu zwei Dritteln der in Wildschweinen gefundenen Cäsium-Kontamination ist eben nicht auf den Reaktorunfall zurückzuführen. Sondern auf Nuklearwaffenversuche in den 1950er und 1960er Jahren.

Although Chernobyl has been widely believed to be the prime source of 137Cs in wild boars, we find that “old” 137Cs from weapons fallout significantly contributes to the total level (10–68%) in those specimens that exceeded the regulatory limit. In some cases, weapons-137Cs alone can lead to exceedances of the regulatory limit, especially in samples with a relatively low total 137Cs level. Our findings demonstrate that the superposition of older and newer legacies of 137Cs can vastly surpass the impact of any singular yet dominant source and thus highlight the critical role of historical releases of 137Cs in current environmental pollution challenges.

Stäger, F.; Zok, D.; Schiller, A.;Feng, B. und Steinhauser, G.: Disproportionately High Contributions of 60 Year Old Weapons-137Cs Explain the Persistence of Radioactive Contamination in Bavarian Wild Boars, Environmental Science & Technology, im Druck (August 2023) DOI: 10.1021/acs.est.3c03565

Wie man an der nebenstehenden Grafik sieht (entnommen aus dem oben zitierten Artikel), wird nämlich in nuklearen Explosionen ein weiteres Cäsium-Isotop mit 135 Kernbausteinen, also 135Cs, etwa 8 Mal häufiger erzeugt, als in dem Tschernobyl-Reaktor. Misst man also das Mengenverhältnis der beiden Isotope 135Cs und 137Cs, lässt sich daran der Ursprung feststellen. Und der ist eben, das hat sich jetzt herausgestellt, alles andere als eindeutig zuzuschreiben.

Lassen wir also die Kirche im Dorf: Zwar ist alles freigesetzte radioaktive Material irgendwo bedenklich, und wir sollten dessen Mengen genau kontrollieren und nach Möglichkeit minimieren. Aber ein Argument gegen die moderne Nutzung der Kernenergie ist die jetzt veröffentlichte BfS-Warnung sicher nicht.

Radioaktive Pilze und Schweine
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