Die Kamtschatka-Krabbe Paralithodes camtschaticus war ursprünglich nur im nördlichen Pazifik beheimatet, also in Japan und Alaska zu finden. Das Tier wird bis zu 17 Kilogramm schwer und erreicht eine Beinspannweite von 180 Zentimetern.

In den 1930er Jahren kam angeblich der sowjetische Machthaber Josef Stalin höchstpersönlich auf die Idee, die Spezies auch an der nordeuropäischen Atlantikküste, genauer in der Barentssee anzusiedeln. Das Ziel war offenbar eine Verbesserung der Nahrungsgrundlage für den wichtigen Kriegshafen Murmansk.

Der Krabbenart, umgangssprachlich auch als Königskrabbe bekannt, gefiel die neue Umgebung hervorragend: Innerhalb von wenigen Jahrzehnten breitete sie sich weiter nach Süden aus und wird seit 1977 auch in Norwegen gefangen. Einerseits ist das problematisch, weil die Kamtschatka-Krabbe offenbar über erhebliche evolutionäre Vorteile verfügt: Sie ernährt sich von allen anderen Lebewesen, die sie fangen kann. Die Spezies gilt daher als invasive Art, die das lokale Ökosystem übernimmt.

Andererseits erwies sich das als ökonomisch hervorragend für die norwegischen Fischer, die auf Grund der strengen Richtlinien der EU den Fischfang nicht mehr wie gewohnt weiter betreiben durften. Norwegen ist zwar kein Mitglied der EU, hat aber viele ihrer Rahmenbedingungen übernommen. Die Fangzahlen stiegen an, und mit ihnen der Export – was für eine immer größere Nachfrage sorgte, die derzeit durch das Angebot kaum gedeckt werden kann. Das führte zu einem starken Preisanstieg, im Handel kostet ein Kilogramm Kamtschatka-Krabbe im Jahr 2023 etwa 150 €, das ausgelöste Beinfleisch im Glas wird von deutschen Delikatessenhändlern für 75 € für 220 Gramm angeboten – das Kilogramm also für rund 375 €. Der Fang ist in Norwegen inzwischen stark reguliert, um den Bestand stabil zu halten. Im Jahr 2021 exportierte Norwegen entsprechende Produkte für mehr als 100 Millionen €.

Und damit sind wir an einem Punkt, der im Buch Wider die Angst mehrfach eine Rolle spielt. Denn eine ganz wichtige Erkenntnis zum Verständnis der Natur ist, dass Ökosysteme eben nicht statisch sind: Sie verändern sich, manchmal sogar sehr schnell – und vor allem dadurch, dass Menschen Spezies über größere Entfernungen transportiert und an anderer Stelle angesiedelt haben. Zweifelsfrei hat uns Menschen dieser Mechanismus erst den Weg in die Neuzeit ermöglicht – etwa in Europa die Kartoffel, den Mais und die Tomate beschert. Wer mehr über darüber erfahren möchte, wie insbesondere seit der Öffnung des amerikanischen Kontinents für den weltweiten Austausch unsere Ökosysteme verändert wurden dem sei das hervorragende Buch von Charles C. Mann empfohlen:

Kolumbus‘ Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen

Mann, C.C., Rowohlt Buchverlag 2013

Gerade den so genannten Umweltverbänden fehlt dieses Verständnis offenbar. Viele dieser Organisationen möchten nämlich Ökosysteme auf Dauer so erhalten, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aussahen. Sie hängen also einer romantischen Acker-Wald-und-Boden-Ideologie an, die keinerlei faktische Grundlage hat. Im Dezember 2010 kippten so genannte „Aktivisten“ deshalb 2000 lebende Königskrabben vor den Eingang des Fischereiministeriums in Oslo und forderten die Ausrottung der Spezies.

Dass die Königskrabbe sich weiter an unseren Küsten ausbreiten darf, ist ein Umweltverbrechen der Regierung

Nina Jensen, Meeresbiologin des WWF, 2010

Nun mag man das ja im Extremfall für Norwegen noch unterstützen – schließlich ist hier nachgewiesen, dass Menschen die Kamtschatka-Krabbe in diese Gewässer gebracht haben. Vollends klar wird die Lächerlichkeit der Acker-Wald-und-Boden-Ideologie aber, wenn man ans andere Ende der Welt schaut. Auf vollkommen unbekannten Wegen ist nämlich die Katschatka-Krabbe auch in den Beagle-Kanal gelangt, der die Insel Feuerland vom südamerikanischen Festland trennt. Sie bildet dort inzwischen eine wesentliche Lebensgrundlage der Menschen, in der regionalen Hauptstadt Ushuaia weisen Reiseführer alleine 17 Spezialitätenrestaurants aus, in denen man die Delikatesse probieren kann.

Die Menschen in Ushuaia sind jedenfalls sehr besorgt um diese Lebensgrundlage – derzeit wird eine erbitterte Diskussion um die Ausweitung der Lachszucht im Beagle-Kanal geführt. Und zwar mit dem Tenor, dass die bösen künstlich gehaltenen Lachse das angeblich gute Ökosystem der Kamtschatka-Krabben stören würden …

Ökosysteme sind nicht statisch, sondern verändern sich – und manchmal sogar sehr schnell. Das ist existenziell wichtiger Bestandteil der Natur. Die Vorstellung, dass man Ökosysteme auf einem bestimmten Stand halten und quasi auf Dauer einfrieren kann, ist eine unsinnige Acker-Wald-und-Boden-Ideologie.

Stalins Krabben – auch in Feuerland
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